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Stellungnahme zu Martin Neukamms Rezension von “Evolution. Ein kritisches Lehrbuch”



Neukamm gibt zunächst einen kurzen Überblick über den Inhalt des Buches (der hier weggelassen wurde) und widmet einen relativ langen Teil danach wissenschaftstheoretischen Aspekten. An dieser Stelle setzen die Kommentare ein.

Evolution Ein kritisches Lehrbuch
Reinhard Junker, Siegfried Scherer Evolution – ein kritisches Lehrbuch (7. Auflage) 26,90 *

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Neukamm: Da transspezifische Evolution und Höherentwicklung nicht beobachtbar ist, müßte die Abstammungshypothese aus den Naturwissenschaften herausfallen, eine Implikation, auf der die Autoren strikt beharren. Der methodologische Grundirrtum, der sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, besteht nun darin, daß unter strikter Beachtung der eigens errichteten Wissenschaftsphilosophie kaum eine Theorie übrig bliebe, der noch das Prädikat “naturwissenschaftlich” zukäme.

Neukamm übergeht hier, daß die Aussagen, auf die er sich bezieht, in den Unterkapiteln “Rekonstruktion der Geschichte der Natur” (1.2) und “Evolutionslehre und Schöpfungslehre” (1.3) steht. Es geht nicht darum, daß Unbeobachtbares außerhalb der Naturwissenschaft steht, sondern daß die historische Fragestellung (Entstehung und Geschichte der Lebewesen) methodisch anders bearbeitet werden muß als die Gegenwartsforschung, die der eigentliche Gegenstand naturwissenschaftlichen Arbeitens ist. Diesen Unterschied Gegenwartsanalyse – Geschichtsrekonstruktion heben auch viele Evolutionstheoretiker hervor und diese Unterscheidung ist kein Spezifikum unseres evolutionskritischen Lehrbuchs.

Neukamm: Denn wenn sich Naturwissenschaft nur und ausschließlich auf das unmittelbar Feststellbare beschränkten würde, dürfte sie sich auch nicht mit der Kosmologie, der Geologie oder mit Objekten, wie Atomen, Elementarteilchen und Schwarzen Löchern beschäftigen.

Sehen Geologen nichts im Gelände? Sehen Astronomen nichts im Fernrohr? Geologen können eine Unzahl von Daten sammeln, doch den Ablauf der Erdgeschichte können sie nur anhand dieser Daten zu rekonstruieren versuchen. Den Ablauf selber können sie aber nicht methodisch in derselben Weise untersuchen wie sie die Schichtenabfolgen in geologischen Aufschlüssen beobachten und beschreiben können. Um diesen Unterschied in der Methode geht es im Zusammenhang des wissenschaftstheoretischen 1. Kapitels des evolutionskritischen Lehrbuchs.

Neukamm: Dabei ist es wenig hilfreich darauf zu verweisen, daß naturwissenschaftliche Theorien im Experiment geprüft werden könnten. Experimente sind nicht weniger zu interpretieren als Naturbeobachtungen in historischen Kontexten, weil natürlich auch sie unbeobachtbare Erkenntnisgegenstände zum Thema haben. Wissenschaft ist also gerade die Wissenschaft vom Unbeobachtbaren, das durch Theorienbildung erschlossen wird.

Auch wenn Daten immer interpretiert werden müssen: Die historische Fragestellung ist eine andere als die experimentelle. Darum geht es hier. Darüber hinaus haben Experimente selbstverständlich entweder direkt beobacht-bare oder wenigstens indirekt meßbare Erscheinungen oder Abläufe, die heute vorkommen, zum Gegenstand, was bei vergangenen Abläufen nicht in derselben Weiwse der Fall ist.

Neukamm: Daher kann der von den Autoren unternommene Versuch, gleichsam aus der “Mausperspektive” zu argumentieren und zu behaupten, im Evolutionsexperiment sei meist der Nachweis von “Verlustmutationen” führbar, wenig überzeugen.

Die kausale Evolutionsforschung verfolgt das Ziel, die Mechanismen der Entstehung neuer “Bauteile” und Baupläne aufzuklären. Und wenn die bekannten Mechanismen nur Variation, Optimierung, Verluste etc. zeigen, dann darf man mit Fug und Recht behaupten, daß die Frage der Mechanismen der Makroevolution (Neu- oder Umkonstruktionen) derzeit nicht empirisch beantwortet ist. Eine weitergehende Schlußfolgerung wird im evolutionskritischen Lehrbuch nicht gezogen.

Neukamm: Eine nicht minder beliebte, gleichwohl aber ebenso unglückliche Argumentationsstrategie ist die Überbetonung offener Fragen nach den Ursachen und Entwicklungsabläufen in der Evolution, um der eigenen Überzeugung Raum zu verschaffen.

Es ist vollkommen legitim, offene Fragen herauszustellen. Diese offenen Fragen werden im evolutionskritischen Lehrbuch jedoch nicht automatisch als Stützen für eine Alternative gewertet. Neukamm müßte hier wenigstens eine Stelle zeigen, wo dies angeblich geschieht. So aber macht er unzutreffende Behauptungen über den Inhalt des Buches.

Neukamm: Es wird hier vergessen, daß die Evolutionstheorie aus zwei Bereichen besteht, zum einen aus der Deszendenzhypothese, welche die Verwandtschaft der Lebewesen, also deren Abstammung von einer oder einigen wenigen Stammarten lehrt, sowie aus verschiedenen Kausaltheorien, welche die Wirkfaktoren und Mechanismen evolutiver Veränderung zum Thema haben.

Das wird keienswegs vergessen. Vielmehr werden im Buch genau diese beiden Bereiche durch die Anordnung der Kapitel auseinandergehalten (Kapitel III, IV: Kausale Evolutionsforschung; Kapitel V, VI: Historische Evolutionsforschung). Wieder eine Falschbehauptung über den Inhalt des Buches.

Neukamm: Beide Bereiche sind insofern logisch unabhängig, als beispielsweise, selbst wenn sich alle Kausaltheorien und manche Details in einigen konstruierten Stammbäumen als falsch herausstellen würden, nicht folgte, daß damit die Deszendenzhypothese falsch wäre. Daher können die Autoren aus der Feststellung, daß dieser Mechanismus oder jener Entwicklungsschritt noch nicht gelöst oder aber unzureichend zur Erklärung dieser oder jener Anpassung sei, die Abstammungshypothese nicht infragestellen, für die ja unabhängig von der Kausalfrage eine Unzahl an Belegen spricht.

Die Abstammungshypothese wird ja nicht nur aufgrund der Problematik der Kausaltheorien der Evolution in Frage gestellt, sondern eben insbesondere dadurch, daß in den Kapiteln V und VI die Stichhaltigkeit der Belege untersucht und kritisiert wird. Da diese Belege als nicht stichhaltig herausgestellt werden, bekommt die Kausalfrage besonderes Gewicht.

Neukamm: Kurzum: Ursachenfragen bilden nicht die Grundlage der Abstammungshypothese, die es immer wieder neu zu begründen gälte. Offene Detailfragen über den Ablauf und die Triebkräfte der Evolution sind mit anderen Worten Antrieb der wissenschaftlichen Forschung und hier keineswegs geeignet, um die transspezifische Evolutionsvorstellung infragezustellen.

Ungeachtet der methodologischen Fragwürdigkeit des Buches werden jedoch die evolutionstheoretischen Konzepte und Forschungsergebnisse im wesentlichen sachlich kompetent beschrieben. Eine Ausnahme bilden die Kapitel, welche die fossilen Übergangsformen zum Thema haben. Behauptungen wie etwa diejenige, die mosaikartige Verteilung von Merkmalen bei Lebewesen entspräche nicht den Erwartungen einer kontinuierlich verlaufenden Evolution* zeigen, daß die Autoren weder die phylogenetische Systematik noch das Konzept der Artspaltung hinreichend verstanden haben.

*So wird das im evolutionskritischen Lehrbuch gar nicht behauptet. Vielmehr wird darauf hingewiesen, daß man terminologisch zwischen “Zwischenform” oder “Mosaik-form” als beschreibenden und “Bindeglied” oder “Übergangsform” als interpretierenden Begriffen unterscheiden muß, und daß Mosaikformen nicht automatisch als evolutionäre Übergangsformen zu interpretieren sind (s. S. 216). Viele Mosaikformen wie z. B. das Schnabeltier werden auch von Evolutionstheoretikern nicht als evolutionäre Übergangsformen interpretiert.

Damit erübrigt sich der Vorwurf, die Autoren hätten “weder die phylogenetische Systematik noch das Konzept der Artspaltung hinreichend verstanden”. Daß wir beides richtig verstanden haben, ist an anderen Stellen des Buches ersichtlich (III.5; Kasten Seite 160).

Neukamm: Die erhobene Forderung, die fossil überlieferten Übergangsformen müßten in allen Charakteren eine Mittelstellung zwischen den zu überbrückenden Organismengruppen einnehmen, haben schon MAYR und REMANE als unberechtigt zurückgewiesen, weil Artspaltung und die unterschiedlichen Evolutionsgeschwindigkeiten der Merkmale ja gerade den Mosaikmodus der Evolution zur Folge haben.

Es geht hier darum, daß eine Fossilform nicht dann eine evolutive Übergangsform sein kann, wenn einige ihrer Merkmale nicht in die Übergangsstellung passen. Genauso argumentieren auch Evolutionstheoretiker. Beispiele können geliefert werden.

Neukamm: Evolution verläuft also nicht, wie postuliert wird, über ein lückenloses Formenkontinuum, sondern weitgehend mosaikartig.

Richtig; wir haben das auf Seite 86 (vgl. Abb. 6.9) auch selber so beschrieben. Die Frage ist doch dann aber, ob die tatsächlich existenten Mosaikformen sich einigermaßen widerspruchsfrei in Stammbäume einpassen lassen. Und das ist gewöhnlich nicht der Fall und das muß in einem kritischen Lehrbuch herausgestellt werden.

Neukamm: Schließlich erweist sich der im Buch gebrauchte Begriff von der Übergangsform als ein Relikt aus der traditionellen Systematik, in der es noch so etwas wie große getrennte Klassen von Lebewesen (wie Ordnungen, Klassen, Stämme und dergleichen) gab, die es zu überbrücken galt.

Nein, das ist kein Relikt, denn auch nach heutigem Evolutionsverständnis geht man schließlich davon aus, daß letztlich verschiedene Typen von Lebewesen genealogisch überbrückt wurden. Ob man diese Typen mit “Klassen”, “Ordnungen” etc. bezeichnet oder mit neuen Taxonnamen der Kladistik belegt, hat für diese Problematik keinerlei Bedeutung.

Neukamm: In der phylogenetischen Systematik gibt es jedoch solche hierarchischen Kategorien gar nicht mehr, sondern nur noch feinverästelte Verzweigungsschemata.

Das tut in der Frage nach Übergangsformen ebenfalls nichts zur Sache.

Neukamm: Damit erweist sich auch die Grundidee einer Übergangsform (wie sie etwa die Großgruppe der “Reptilien” hin zu der Säugetier-Klasse überbrücken sollten) als nicht mehr haltbar.

Geradezu ein Paradebeispiel in der antievolutionistischen Diskussion verkörpert schließlich das Infragestellen der Entstehung von bestimmten Proteinen oder komplexen Organen aus Wahrscheinlichkeitsgründen. Die Autoren bemühen dazu als Beispiel den “Bakterienmotor” von Escherichia coli, verleihen den Strukturen eine mathematische Präzision und weisen nach, daß die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung der fraglichen Merkmale extrem klein sei. Dieses Argument erweist sich schon allein deshalb als fehlerhaft, weil sich praktisch jedes beliebige Ereignis im Nachhinein außerordentlich unwahrscheinlich machen läßt.

Es geht darum, daß nach gegenwärtigem Kenntnisstand von einem selektionspositiven Zustand zu einem anderen eine Minimalanzahl von Änderungsschritten (Mutationen) erforderlich ist. Das ist unabhängig davon, wie die jeweiligen Strukturen aussehen. Dazu müssen auch keine ganz bestimmten Ergebnisse “anvisiert” worden sein. Diese Minimalanzahl kann unter Berücksichtigung des Selektionsaspekts und neutraler Mutationen für Wahrscheinlichkeitsrechnungen zurgrundegelegt werden.

Neukamm: Es wird übersehen, daß es beliebig viele Möglichkeiten gibt, um ein System, unter Berücksichtigung von Doppelfunktionen und systemtheoretischen Gesichtspunkten, selektionspositiv weiterzuentwickeln.

Nein, es gibt nicht beliebig viele Möglichkeiten. Das ist eine Behauptung ohne jede Begründung.

Neukamm: Die geringe Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Einzelereignisses wird also durch eine immense Zahl an potentiellen Realisierungsmöglichkeiten aufgewogen, wodurch der Wahrscheinlichkeitseinwand ins Leere läuft.

Neukamm geht in keiner Weise direkt auf die Darstellung des Buches (Seiten 128-134) ein. Wenn er sich die Mühe machen würde, zu zeigen, wo die Argumentation falsch ist, könnte man darüber konkret diskutieren. Die “immense Zahl an potentiellen Realisierungsmöglichkeiten” wird im übrigen in unserer Rechnung implizit berücksichtigt. Sie gleicht die geringen Wahrscheinlichkeiten jedoch bei weitem nicht aus.

Neukamm: Selbst wenn der geneigte Leser von den fragwürdigen fachlichen und wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten abzusehen gewillt wäre, käme er jedoch kaum umhin festzustellen, daß sich der wohl größe Irrtum im Buche in der originären Zielsetzung der Autoren niederschlägt.

Zur Erinnerung hier die Zielsetzungen des Buches, wie sie im Vorwort als Hauptanliegen formuliert sind: “Weitgehend unbekannte Deutungsprobleme und offene Fragen der Evolutionslehre werden systematisch und umfassend thematisiert. Sie haben … ein so großes Gewicht, daß Makroevolution als Leitvorstellung … in Frage gestellt werden muß…” (S. 6).

Neukamm: Die Evolutionskritik kann im Rahmen der Schöpfungsidee nur dann überhaupt einen Sinn machen, wenn die vermeintliche Fragwürdigkeit des Evolutionskonzepts in Argumente für die Schöpfungsvorstellung umgemünzt werden.

Das ist zum einen nicht das Hauptanliegen des Buches. Zum anderen wird an manchen Stellen konkret gezeigt, wie manche (!) Argumente im Rahmen der Schöpfungslehre eine Deutung finden, insbesondere in Kapitel VII. Neukamm geht auf die dort vorgestellten Ansätze nicht ein.

Neukamm: Selbst wenn es aber den Autoren gelungen wäre, die Evolutionsvorstellung komplett zu widerlegen, hielten sie kein einziges Argument in Händen, das die Idee von dem “intelligenten Programmierer” evident erscheinen ließe. Anstelle der Schöpfungsalternative könnten nämlich auch andere Modelle treten, so daß man aus der Falschheit einer Theorie nicht automatisch auf die Richtigkeit einer konkurrierenden schließen darf.

Richtig, wir sagen ja auch nirgends, “daß man aus der Falschheit einer Theorie nicht automatisch auf die Richtigkeit einer konkurrierenden schließen darf”. Die Möglichkeit, naturwissenschaftliche Daten im Rahmen eines schöpfungstheoretischen Ursprungskonzepts zu deuten, wird nicht primär mit der Kritik am Evolutionsmodell begründet.

Neukamm: Das zentrale Problem aller supernaturalistischen Theorien gründet in ihrer prinzipiellen Nichtwiderlegbarkeit durch beobachtbare Sachverhalte.

Wir haben im Kapitel VII.17 gezeigt, wie im Rahmen der Schöpfungslehre prüfbare Konzepte entwickelt werden.

Neukamm: Die Schöpfungstheorie kann selbst höchst gegensätzliche Beobachtungen (wie die Ähnlichkeit und die vollkommene Unähnlichkeit von Arten) gleichermaßen gut erklären.

Das ist falsch. Die Behandlung dieser Thematik sprengt den Rahmen des Lehrbuchs. Darauf wird aber ausführlich in R. Junker: Ähnlichkeiten, Rudimente, Atavismen (Holzgerlingen, 2002) eingegangen.

Reinhard Junker Ähnlichkeiten, Rudimente, Atavismen 19,95 *

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Neukamm: Eine Theorie, die jedoch alles erklärt, erklärt nichts. Man bekommt demzufolge durch keine spezifische Beobachtung einen wirklichen Hinweis auf die Existenz eines Schöpfers. Dieses methodologische Dilemma ist der Hauptgrund für die heuristische Unfruchtbarkeit und Unwissenschaftlichkeit der Schöpfungsvorstellung. Im Gegensatz zur Evolutionsbiologie kann es den Schöpfungstheoretikern prinzipiell nicht gelingen, ihre Postulate durch Beobachtungen zu bereichern, weshalb sie auf die Destruktion der transspezifischen Evolutionsidee ausweichen müssen.

Nochmal: Es ist seltsam, daß der Autor solche Behauptungen aufstellt, jedoch auf kein einziges Detail in Kapitel VII.17 eingeht, in welchem es um “Deutung des Lebens unter der Voraussetzung von Schöpfung” geht.

Neukamm: Vor dem Hintergrund all des Gesagten nimmt es nicht wunder, daß Junkers und Scherers Buch weder die Evolutionstheorie überzeugend infragestellen konnte noch zur Klärung der Frage, ob denn ein Schöpfer existiert, einen profunden Beitrag hat leisten können.

Martin Neukamm, 03.04.2002

Quelle: http://thor.tech.chemie.tu-muenchen.de/~neukamm/rezension_junker.html (Link funktioniert nicht mehr und wurde deaktiviert, Stand 2.9.2019)

 

Kommentare in fetter Schrift von Reinhard Junker, 2. 11. 2002