Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 5. Jg. Heft 1 - April 1998


Die Wiederentdeckung eines Irrtums

Individualität und Variabilität von Wirbeltierembryonen im Konflikt mit phylogenetischen Konzeptionen


von Henrik Ullrich

Studium Integrale Journal
5. Jahrgang / Heft 1 - April 1998
Seite 3 - 6


Zusammenfassung: Ernst Haeckel postulierte mit dem "Biogenetischen Grundgesetz" u. a. eine phylogenetisch bedingte Synchronität der frühen Individualentwicklungen bei den Wirbeltieren als Rekapitulation ihrer Stammesgeschichte. Auch nach der Widerlegeung dieses vermeintlichen Gesetzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemühten sich Evolutionstheoretiker, einige Grundideen Haeckels in modifizierter Form für phylogenetische Fragestellungen zu nutzen. Eine vergleichend-ontogenetische Studie von Richardson et al. (1997) belegt, daß auch die modernste Version, das "hourglass model" (Sanduhrmodell) mit den Befunden bei Wirbeltierembryonen nicht übereinstimmt. Deren Variabilität und Individualität ist in allen ontogenetischen Entwicklungsstadien erheblich. Rekapitulationsvorstellungen innerhalb phylogenetischer Konzepte für Wirbeltiere werden durch die ontogenetischen Fakten falsifiziert. Die Rolle makroevolutiver Mechanismen auf der Basis von Veränderungen embryonaler Prozesse wird kritisch diskutiert.



Die frühe Individualentwicklung oder Ontogenese (unterteilt in Blastogenese, Embryogenese und Fetogenese) eines Wirbeltieres beeindruckt den Betrachter durch die rasante Abfolge verschiedener morphologischer und funktioneller Erscheinungsbilder. Der Vergleich des embryonalen mit dem vertrauten Aussehen ausgebildeter (adulter) Organismen sorgte in den letzten zwei Jahrhunderten wiederholt dafür, daß nach allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Verflechtung von ontogenetischer und adulter Ebene gesucht wurde (z.B. Stufenleiterlehre, Typologie im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts., Rekapitulationsdenken innerhalb phylogenetischer Modelle).

Besonders einflußreich war Ernst Haeckels Versuch, einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Ontogenese und Phylogenese bei den vielzelligen Tieren (Metazoen) herzustellen. In der Embryologie gilt das von ihm aufgestellte und vehement propagierte "Biogenetische Grundgesetz" allerdings in seiner ursprünglichen Form (1866, 1874) schon lange als überholt; es stellt kein brauchbares methodisches Werkzeug phylogenetischer Forschung dar. Dennoch oder gerade deshalb erschienen zahlreiche Modifikationen der Verallgemeinerungen Haeckels (in Wort und Bild) in der einschlägigen evolutionstheoretischen Fachliteratur bis heute. Dabei finden immer wieder Haeckels Abbildungen zur Embryonenähnlichkeit aus seiner "Anthropogenie" (1874) Verwendung, meist ohne daß auf ihre Realitätsuntreue kritisch eingegangen wird (Abb. 1).


Abb. 1: Embryonenbilder aus Haeckels "Anthropogenie", 1. Aufl. 1874, Tafel VI und VII. Haeckel schreibt dazu: "Die beiden Tafeln VI und VII sollen die mehr oder minder bedeutende Übereinstimmung versinnlichen, welche hinsichtlich der wichtigsten Formverhältnisse zwischen dem Embryo des Menschen und dem Embryo der Wirbelthiere in frühen Perioden der individuellen Entwicklung besteht."

Das Sanduhrmodell.

Abb. 2: "Hourglass model" (Sanduhrmodell) nach Elinson 1987, Duboule 1994 und Collins 1995. Der Ähnlichkeitsgrad von Wirbeltierembryonen aus allen Klassen soll in einer mittleren Phase ihrer Embryonalentwicklungen überdurchschnittlich groß sein (konserviertes bzw. phylotypisches Stadium). In den vorangehenden (Blastogenese) bzw. darauffolgenden Stadien (Fetogenese) dominieren dagegen die individuellen Unterschiede.

Ein allgemein akzeptierter Konsens innerhalb aktueller phylogenetischer Diskussionen stellt in diesem Zusammenhang das sogenannte "hourglass model" (Sanduhrmodell) dar (Elinson 1987, Duboule 1994, Collins 1995). Danach soll der Ähnlichkeitsgrad von Wirbeltierembryonen aus allen Klassen in einer mittleren Phase ihrer Embryonalentwicklungen überdurchschnittlich groß sein. In den vorangehenden bzw. darauffolgenden Stadien der jeweiligen Ontogenesen treten die individuellen Unterschiede dagegen stärker hervor. Dieses Stadium größter Ähnlichkeit wird als konserviertes, phylotypisches Stadium bezeichnet, das im Blick auf die Phylogenese der Wirbeltiere einen gemeinsamen Ursprung belegen und diesen morphologisch annähernd rekapitulieren soll (Abb. 2).

Wissenschaftshistorisch geht dieser Interpretationsansatz auf C. E. v. Baers (1792-1876) Typologie zurück, welcher später durch Haeckels "Gesetz des ontogenetischen Zusammenhangs systematisch verwandter Thierformen" (1874) phylogenetisch umgedeutet wurde. Von Baer und Haeckel glaubten, daß alle Wirbeltierembryonen am Anfang ihrer Individualentwicklung nahezu deckungsgleich sind und dann entsprechend ihrer systematischen Stellung voneinander divergieren. Da beiden Forschern relativ wenig vergleichendes Datenmaterial über die erste Phase der Ontogenese (Blastogenese) zur Verfügung stand, setzten ihre Verallgemeinerungen in dem ontogenetischen Abschnitt ein, der im Sanduhrmodell mit dem phylotypischen Stadium markiert wird.

Das "hourglass model" und die damit lebendig gehaltene Vorstellung, die Ontogenese sei doch irgendwie eine teilweise Widerspiegelung der Phylogenese, stellte kürzlich M. K. Richardson (1997) mit einer breit angelegten, vergleichenden Studie über das o.g. frühembryonale Stadium bei Wirbeltieren in Frage. Richardson weist zunächst auf zwei Sachverhalte hin, die in der Diskussion zum Sanduhrmodell übersehen wurden. Zum einen gibt es in der englischsprachigen Literatur keine einzige vergleichende Studie, die das Modell anhand einer umfangreichen Datensammlung bestätigt oder falsifiziert. Offensichtlich, so Richardson, begründeten die Autoren das Sanduhrmodell allein auf den Daten weniger Labortiere (Hühnchen, Maus, Ratte, Frosch, Zebrafisch) und unter dem Eindruck der neuen Erkenntnisse über die Universalität genetischer Kontroll- und Steuerungsprinzipien (z.B. HOX-Gene) im Verlauf der Ontogenese. Zum anderen existiere kein anerkannter zeitlicher und morphologischer Standard, um das fragliche phylotypische Stadium artübergreifend zu charakterisieren. Erst damit aber wären vergleichende Untersuchungen methodisch nachvollziehbar, die zu inhaltlich verwertbaren Ergebnissen führen könnten.

Neue Befunde.

Richardson selbst analysierte und verglich Wirbeltierembryonen von 39 Arten aus allen Wirbeltieklassen in einem annähernd entsprechenden Entwicklungsabschnitt. Es handelte sich um dasjenige Entwicklungsstadium, bei dem die Gliederung der metameren Körperwandsegmente (Somiten) bereits begonnen hatte, die Schwanzknospe aber noch keine Segmentation und Verlängerung zeigte (sogenanntes "tailbud stadium", beim Menschen zu Beginn der 4. Entwicklungswoche).

Die breite wissenschaftliche Öffentlichkeit reagierte auf Richardsons Veröffentlichung im Gegensatz zu seinen Fachkollegen überrascht (vgl. Pennisi 1997). Weshalb diese Aufregung?


Abb. 3: Seitliche Ansichten der embryonalen Kopf-Halsregion von Embryonen verschiedener Wirbeltierklassen nach Richardson et al. (1997): a Neunauge (Kieferlose), b Rochen (Knorpelfische), c Stör (Knochenfisch), d Baumfrosch aus Puerto Rico (Amphibien), e Europäische Brückenechse (Reptilien), f Hühnchen (Vögel), g Opossum - amerikanische Beutelratte (Beuteltiere), h Hauskatze (Säugetiere). Neben dem hohen Grad der individuellen Merkmalsausprägung (Anzahl und Form der Pharyngealbögen) ist eine Ähnlichkeitsabstufung festzuhalten, die nicht mit den phylogenetischen Reihen korreliert.

Für Richardson existiert kein besonderes, konserviertes oder phylotypisches Embryonalstadium bei den Wirbeltieren. Das Sanduhrmodell und die damit verknüpften phylogenetischen Ansätze sind empirisch nicht haltbar. Im untersuchten Entwicklungsstadium zeigen die einzelnen Organismen ausgeprägte Unterschiede untereinander z. B. hinsichtlich ihrer Größe (bis zum 10 fachen), ihres gesamten Bauplanes (Zahl der Somiten, Pharyngealbögen bzw. Gliedmaßen) oder in der Anlage bzw. hinsichtlich des Differenzierungsgrades einzelner Organe (z.B. des embryonalen Herzens). Die Variationsbreite der embryonalen Merkmalsmuster ist nicht weniger markant als die Ausprägungen bei den Adultorganismen. Eindrucksvolles Beispiel dafür sind die Pharyngealbögen. Haeckel präsentierte in seiner Abbildung für diese ein identisches Bild in Anzahl und Form bei allen Wirbeltieren, welches der Wirklichkeit nicht im geringsten entspricht (vgl. Abb. 1 mit Abb. 3). Richardson deklassiert deshalb Haeckels Abbildungen (speziell die Embryonen in der obersten Reihe, von Abb. 1), von denen signifikante Einflüsse auf entsprechende Ideen und Hypothesen ausgingen, als stilisierte Abwandlungen eines Säugetierembryos ohne Realitätstreue und wissenschaftlichen Wert.

Dennoch vertritt Richardson eine Verflechtung von Ontogenese und Phylogenese, die allerdings nicht deskriptiv, sondern allein kausal begründet ist. Die evolutive Abwandlung von Merkmalen erfolgte seiner Ansicht nach hauptsächlich durch erblich fixierte Änderungen bereits existierender ontogenetischer Prozesse. Aus der beschriebenen Vielfalt bei Wirbeltierembryonen schließt der Autor auf Evolutionsmechanismen, die zur Beeinflussung der Größe und des Körperbauplanes von Embryonen oder zum Wechsel in der Anzahl sich wiederholender Baumerkmale (z.B. Somiten, Pharyngealbögen) sowie zur Verschiebung von Wachstumsmustern (Allometrie) und / oder des zeitlichen Entwicklungsverlaufes (Heterochronie) einzelner Organe geführt haben müssen. Alle embryonalen Stadien sind in gleicher Weise anfällig für diese Veränderungen und nehmen deshalb eine Schlüsselrolle für makroevolutive Ereignisse ein. Richardson warnt davor, auf der immer noch dünnen Grundlage aktuellen ontogenetischen Wissens (das zumeist von wenigen Labortieren stammt) voreilige Verallgemeinerungen zu postulieren, wie es bei Haeckels Thesen und den daraus abgeleiteten Modifikationen geschah.

Diskussion.

Richardson gelingt es eindrucksvoll - und darin liegt der große Wert seiner Arbeit -, durch die Präsentation und die vergleichende Darstellung älterer und aktueller ontogenetischer Daten das "hourglass model" und das damit verknüpfte Postulat von der Existenz eines konservierten, phylotypischen Stadiums bei den Wirbeltieren zu widerlegen. Seine Schlußfolgerungen sind allerdings in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Biogenetischen Grundgesetz nicht neu (vgl. z.B. Peters 1980, Ullrich 1997). Die bis dahin vorliegenden Beschreibungen von Ontogenesen einzelner Organismen (z.B. beim Menschen durch Blechschmidt (1961, 1973) und O'Rahilly (1987)) haben punktuell dieses Ergebnis bereits vorweggenommen. Vergleichende Untersuchungen deutscher Embryologen zum Ausgang des 19. Jahrhunderts (z.B. Mehnert 1896: Die individuelle Variation des Wirbelthierembryo) führten auf der Grundlage des damals vorhandenen Wissens zu einer analogen Ablehnung des simplen methodischen Ansatzes Haeckels. Haeckels Abbildungen sind seit ihrer Veröffentlichung wiederholt kritisiert und von Fachleuten z.T. als Fälschungen oder als oberflächliche Schematisierungen charakterisiert worden (Gursch 1981). Daß sie dennoch immer wieder auftauchen, ist ein Phänomen, welches in einem engen Zusammenhang mit der breiten und gewöhnlich unkritischen Akzeptanz der Evolutionslehre stehen dürfte.

Die Annahme, über Abwandlungen ontogenetischer Prozesse einen Erklärungsansatz für makroevolutive Änderungen zu liefern, stellt in der Vielfalt bisher diskutierter phylogenetischer Mechanismen prinzipiell nichts Neues dar (z.B. Chambers 1844, Haeckel 1866, Naef 1917, Sewertzoff 1931, De Beer 1930, 1958; Gould 1977). Während die früheren Hypothesen von einer geringeren Anfälligkeit junger embryonaler Stadien (besonders des phylotypischen Stadiums) gegenüber evolutiven Veränderungen sprachen, sieht Richardson keinen Grund für diese Einschränkung wegen der nachgewiesenen Merkmalsdiversifikation in allen embryonalen Phasen.

Schlußfolgerung.

Die von Richardson präsentierten deskriptiven Daten sowie die in seiner Arbeit nirgends angesprochenen Probleme der Homologisierung von embryonalen und adulten Merkmalen (Ullrich 1994), belegen erneut die Fragwürdigkeit jeder Art einer spekulativen Parallelisierung bzw. Gleichsetzung des embryonalen Formenwandels mit den hypothetischen phylogenetischen Reihen der Wirbeltiere. Ebenso liefern die bisher bekannten ontogenetischen Prinzipien der Struktur- und Funktionsentwicklung kein tragendes Fundament für ein kausales Verständnis makroevolutiver Prozesse. Die vorgeschlagenen Evolutionsmechanismen (Heterochronie, Allometrie u.a.m.) sind lediglich deskriptive Umschreibungen der aktuell beobachteten Merkmalsvielfalt, für deren Entstehen jedoch plausible genetische und epigenetische Erklärungen auch von Richardson nicht genannt werden können.

Entgegen aller bisherigen Hoffnungen spricht die Komplexität und Individualität der gesamten Ontogenese bei Wirbeltieren immer deutlicher gegen ihre konstruktive Verwertbarkeit in phylogenetischen Modellen.


Literatur

  • Blechschmidt E (1961) Die vorgeburtlichen Entwicklungsstadien des Menschen. Freiburg.
  • Blechschmidt E (1973) Die pränatalen Organsysteme des Menschen. Stuttgart.
  • Chambers R (1844) Vestiges of the Natural History of Creation. 1. Auflage. London.
  • Collins P (1995) Embryology and development. In: Collins P (ed) Gray's anatomy, 38th edn. London, pp 91-341.
  • de Beer GR (1930) Embryology and evolution. Oxford.
  • de Beer GR (1958) Embryos and ancestors. Oxford.
  • Duboule D (1994) Temporal colinearity and the phylotypic progression. Development (Suppl) 135, 142.
  • Elinson RP (1987) Changes in developmental patterns: embryos of amphibians with large eggs. In: Ralf RA et. al. (eds) Development as an evolutionary process. New York, S. 1-21.
  • Gould SJ (1977) Ontogeny and phylogeny. Cambridge.
  • Gursch R (1981) Die Auseinandersetzungen um Ernst Haeckels Abbildungen. Diss. med. Marburg 1980. Marburger Schriften zur Medizingeschichte. Bern, Frankfurt a.M.
  • Haeckel E (1866) Generelle Morphologie. I: Allgemeine Anatomie der Organismen. II: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen. Berlin.
  • Haeckel E (1874) Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. 1. Auflage. Leipzig.
  • Mehnert E (1896) Die individuelle Variation des Wirbelthierembryo. Morphologische Arbeiten. 5. Band. Jena. S. 386-444.
  • Naef A (1917) Die individuelle Entwicklung organischer Form als Urkunde ihrer Stammesgeschichte Jena.
  • O'Rahilly et al. (1987) Developmental Stages in Human Embryos. Carnegie Institution of Washington Puplication 637.
  • Pennisi E (1997) Haeckel's Embryos: Froud rediscovered. Science 277, 1435.
  • Peters S (1980) Das Biogenetische Grundgesetz - Vorgeschichte und Schlußfolgerungen Medizinhist. J. 15, 57-67.
  • Richardson MK, Hanken J, Gooneratne ML, Pieau C, Raynaud A, Selwood L & Wright GM (1997) There is no highly conserved embryonic stage in the vertebrates: implications for current theories of evolution and development. Anat. Embryol. 196, 91-106.
  • Sewertzoff AN (1931) Morphologische Gesetzmäßigkeiten der Evolution. Jena.
  • Ullrich H (1994) Embryologie und Homologie - Die Reichert-Gauppsche Theorie. Stud. Int. J. 1, 15-24.
  • Ullrich H (1997) Zur Geschichte der Entdeckung der sogenannten Kiemenbogen und Kiemenspalten in der menschlichen Embryonalentwicklung. Diss. med. Dresden.


zum Seitenanfang

Studium Integrale Journal 5. Jg. Heft 1 - April 1998