Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 12. Jg. Heft 2 - Oktober 2005
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Der Ursprung der Vögel – ein Update

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
12. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2005
Seite 51 - 57


Zusammenfassung: Unter den zweibeinigen theropoden* Dinosauriern der Kreide gibt es zahlreiche Mosaikformen mit unterschiedlichen Vogel- und Reptilmerkmalen. Daher gelten sie als die besten Kandidaten für Vogelvorfahren. Die zunehmende Vogelartigkeit einiger Formen unterstützt evolutionstheoretische Deutungen. Insgesamt sind die Merkmale bei den betreffenden Gattungen jedoch so mosaikartig verteilt, daß vielfach Konvergenzen* und Reversionen* angenommen werden müssen, auch bei manchen Schlüsselmerkmalen*.

Die ältesten fossilen Federn erscheinen in fertiger Form beim sog. „Urvogel“ Archaeopteryx. Andere Fossilerhaltungen feder- oder haarartiger Strukturen sind deutlich jünger und in ihrer Deutung oft umstritten. Bei manchen kreidezeitlichen Formen wird Flugverlust als wahrscheinlich betrachtet. Unklar ist, welche Selektionsdrücke den Erwerb von Federn und der Flugfähigkeit begünstigt haben könnten.

Sowohl in der Kreide als auch zu Beginn des Tertiärs treten zahlreiche Vogelgruppen plötzlich und mit markanten Diskontinuitäten auf. (Mit * gekennzeichnete Begriffe werden im Glossar erklärt.)




Einleitung
Abb. 1: Der „Urvogel“ Archaeopteryx lithographica, Abguß des Berliner Exemplars. (Naturmuseum Senckenberg, Frankfurt)

Die heutigen Vögel sind gegenüber den anderen Wirbeltieren deutlich abgegrenzt. Lange Zeit vermittelte fast allein der berühmte fossile „Urvogel“ Archaeopteryx (Abb. 1) aus dem Oberjura ein Bild davon, über welches potentielle Bindeglied ein evolutionärer Übergang von Reptilien zu Vögeln verlaufen sein könnte, denn er weist eine ausgeprägte Kombination von reptilienartigen und vogeltypischen Merkmalen auf (Abb. 3). Der „Urvogel“ erweist sich damit offenkundig als Mosaikform*, die allerdings nicht sicher als evolutionäre Übergangsform gewertet werden kann (s. u.). Alle anderen bis Ende der 1980er Jahre entdeckten fossilen Vögel waren deutlich von Reptilien abgrenzbar.

Archaeopteryx ist nach wie vor das älteste unumstrittene Vogelfossil. Erst ab der Unterkreide sind weitere Vogelfossilien bekannt (zur Schichtenfolge siehe Abb. 2). Eine Ausnahme bildet lediglich der sehr umstrittene Protoavis aus der Trias, der von seinem Entdecker S. Chatterjee als deutlich vogelähnlicher als Archaeopteryx eingestuft wird (Chatterjee 1999). Seit Anfang der 1990er Jahre gab es dann eine regelrechte Explosion von Funden fossiler Vögel, die vor allem in China entdeckt wurden. Zwei Drittel aller heute bekannten Vogelfossilien aus der Kreide wurden erst in dieser Zeit entdeckt; mittlerweile sind über 30 Vogelgattungen aus der Kreide bekannt (Chiappe & Dyke 2002, 98). Darüber hinaus wurden mehr und mehr zweibeinig laufende kleinere Dinosaurier (Theropoden*) mit vogeltypischen Merkmalen entdeckt. Dadurch ist die Kluft zwischen Reptilien und Vögeln unter den Fossilien des Jura und der Kreide bei weitem nicht mehr so markant wie noch vor zwei Jahrzehnten.

In diesem Beitrag soll ein kurzer Überblick über das inzwischen sehr komplexe Gebiet der mesozoischen Fossilüberlieferung von Vögeln und vogelähnlichen Dinosauriern sowie über die wichtigsten Kontroversen über evolutionstheoretische Fragen gegeben werden.

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Theropoden-Dinosaurier als Vogelvorfahren?
Abb. 2: Ungefähre stratigraphische Position einiger Gattungen, die im Text erwähnt werden. Sehr viele Fossilfunde von Vögeln und vogelähnlichen Dinosauriern stammen aus der Unterkreide Chinas. Die dunkler unterlegten Gattungen sind etwa gleich alt. Die in die Abb. aufgenommenen Gattungen sind nur eine kleine Auswahl der bekannten Gattungen. Die stratigraphischen Abfolgen passen häufig nicht zu den mittels Cladistik* rekonstruierten evolutionären Abfolgen (vgl. Text). Eine große Anzahl von Konvergenzen* (auch von Schlüsselmerkmalen*) macht es zudem schwierig, evolutionäre Abfolgen zu bestimmen, weil sich die Merkmalsverteilungen oft widersprechen. Zahlen = Millionen Jahre

Nach der Veröffentlichung des einflußreichen Werkes „The origin of birds“ von G. Heilmann (1926) galten relativ unspezialisierte Archosaurier (Thecodonten) als wahrscheinlichste Reptilienvorläufer von Archaeopteryx und den nachfolgenden Vögeln. Durch die Arbeiten von J. Ostrom Mitte der 1970er Jahre wendete sich das Blatt zugunsten der Theropoden-Theorie, die erstmals bereits 1868 von Thomas Huxley ins Spiel gebracht worden war. Heute ist die Vorstellung, daß es sich bei den Vögeln um befiederte Dinosaurier handelt, nur noch wenig angefochten. Der Siegeszug der Theropoden-Theorie hängt eng mit dem Siegeszug des Cladismus* in der Systematik zusammen. Cladistische Analysen weisen bestimmte Gruppen theropoder Dinosaurier als vergleichsweise passendste Vorläufer von Archaeopteryx und den Kreidevögeln aus. Allerdings paßt die Fossilabfolge nicht zu diesem Szenario (s. u.). Das zentrale Argument für einen Übergang Dinosaurier – Vögel entstammt also der Vergleichenden Biologie, deren Argumente für Evolution nicht als zwingend gelten können (vgl. dazu die ausführliche Diskussion in Junker 2002, Kap. 2 und 3). Wenn die Dino-Vogel-Theorie heute für viele Biologen als unangefochten gilt, so muß dies vor dem Hintergrund gesehen werden, daß ein evolutionärer Übergang von irgendwelchen Reptilien zu den Vögeln grundsätzlich vorausgesetzt wird. Unter dieser Vorgabe passen bestimmte Dinosauriergruppen unter den Theropoden am besten.

Die wichtigsten Gemeinsamkeiten vieler Theropoden mit den ältesten Vögeln sind Zweibeinigkeit, Anatomie der Hinterbeine mit nach hinten gerichteter Zehe und teilweise verwachsenen Mittelfußknochen, Anatomie der Vorderbeine mit dreifingriger Hand, lange, nach unten gerichtete Schambeine, der Besitz eines Gabelbeins (verschmolzene Schlüsselbeine) sowie ein langer Wirbelschwanz. Einzelne Gattungen weisen noch weitere Gemeinsamkeiten auf. Viele Paläontologen sind davon überzeugt, daß Archaeopteryx als Dinosaurier angesehen worden wäre, wenn er keine Federn besitzen würde.

Allerdings weisen die Cladogramme (Ähnlichkeitsbäume) von Theropoden und mesozoischen Vögeln eine große Zahl von Konvergenzen oder Reversionen auf, was die evolutionstheoretische Abstammungs-Argumentation schwächt. Denn für eine häufige evolutive Entstehung ähnlicher komplexer Strukturen können kaum Selektionsdrücke verantwortlich gemacht werden. Darüber hinaus ist nicht bestimmbar, welche Gattung unter den theropoden Dinosauriern als geeigneter Vorfahr von Archaeopteryx am ehesten in Frage kommt. Bei jedem Kandidaten gibt es dafür unpassende Merkmale. So hat beispielsweise die oberjurassische Gattung Compsognathus (Abb. 3) mit ihrem Zeitgenossen Archaeopteryx zwar viele Merkmale gemeinsam, besitzt aber eine stark spezialisierte und reduzierte Hand mit nur zwei Fingern (Carroll 1988, 340) und kommt daher – auch abgesehen von der Gleichaltrigkeit – als Vorläufer nicht in Frage. Ähnliche Umstimmigkeiten treten auch bei anderen Gattungen auf. Darüber hinaus gehen die Meinungen über Homologieverhältnisse häufig auseinander. Eine Minderheit der Paläontologen widerspricht daher auch heute noch der Dino-Vogel-Theorie und sucht den Vogelvorläufer unter weniger spezialisierten, älteren Reptilgruppen oder hält die Frage nach den Vorläufern der Vögel für derzeit nicht beantwortbar. Ihre wichtigsten Kritikpunkte werden weiter unten angeführt.

Abb. 3: Skelettvergleich zwischen dem Raubdinosaurier (Theropode) Compsognathus und Archaeopteryx. Blau = Vogelmerkmale, schwarz = Reptilmerkmale. (Nach Wellnhofer 1997)
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Dinosaurier mit Federn?
Abb. 4: Caudipteryx – Dinosaurier mit Federn oder flugunfähig gewordener Vogel? (Aus Nature 393, 753-761, ©Nature Publishing Group; Abdruck mit freundlicher Genehmigung; Foto: Kevin Aulenback, Royal Tyrell Museum of Paleontology)

Die Dino-Vogel-Theorie erhielt Ende der 1990er Jahre enormen Auftrieb, als Theropoden gefunden wurden, die Federn oder federartige Hautanhänge besaßen. Alle diese Fossilien stammen allerdings aus der Unterkreide; sie sind damit deutlich jünger als Archaeopteryx, dessen Federn und gesamtes Federkleid heutigen Vögeln in jeder Hinsicht gleichen. In Bezug auf das Merkmal der Federn gilt deshalb nach wie vor, daß am Anfang der Fossilüberlieferung perfekte Federn stehen. Über die Natur der Dinosaurier-Federn aus der Unterkreide und die taxonomische Einordnung der betreffenden Gattungen lassen sich jedoch oft keine sicheren Aussagen machen. So geht der Faserbesatz des Compsognathiden Sinosauropteryx (Chen et al. 1998) entlang der Wirbelsäule und des Schwanzes wahrscheinlich auf Kollagenfasern aus dem Bindegewebe zurück (vgl. Wellnhofer 1998, 133, Witmer 2002, 10). Dagegen gelten die teils büscheligen, teils fiederig verzweigten Fasern des Theropoden Sinornithosaurus als federähnlich und können strukturell mit Dunenfedern verglichen werden (Xu et al. 2001, Wellnhofer 2002). Allerdings ist ihre Verankerung im Körper nicht dokumentiert. Charakteristisch für Federn ist ein kompliziert gebauter, in die Haut eingesenkter Federfollikel (Peters 2001, Abb. 6). Ist dieser fossil nicht dokumentiert, fehlt ein wichtiges Kriterium zur Bestimmung einer Homologie mit Vogelfedern. Haarartige Strukturen auf der Körperoberfläche sind auch bei anderen Reptilgruppen bekannt, denen im evolutionstheoretischen Deutungsrahmen keine nähere Beziehung zu den Vögeln zugeschrieben wird (Flugsaurier, Horndinosaurier Psittacosaurus) (Mayr et al. 2002). Das schwächt die phylogenetische Aussagekraft dieses Merkmals auch bei „passenderen“ Formen. Die Deutung der Faserstrukturen von Sinornithosaurus als Federvorstufen ist daher unsicher. Das gilt auch für andere Gattungen mit ähnlichen faserigen Anhängen (Shuvuuia, Beipiaosaurus) (Schweitzer 2001; Wellnhofer 2002, 474).

Ganz anders verhält es sich mit Protarchaeopteryx und Caudipteryx (Ji et al. 1998, Abb. 4). Deren Körperanhänge weisen einen zentralen Schaft und eine dicht geschlossene Fahne auf. Die Federn sind allerdings symmetrisch, was gegen ihre Flugtauglichkeit spricht. Flugfähige Vögel haben nämlich immer asymmetrische Federn; symmetrische kennt man nur von flugunfähigen Vögeln. Daher vermuten manche Forscher, daß Protarchaeopteryx und Caudipteryx von flugfähigen Formen abstammen und sich folglich nicht als Vogelvorläufer eignen (Peters 2001, 400). Ihre Federn können daher auch nicht als Federvorstufen interpretiert werden. Für diese Einschätzung spricht auch, daß die Vordergliedmaßen für eine Flugfähigkeit deutlich zu kurz sind. Einige Paläontologen betrachten diese beiden Gattungen daher als Vögel; andere Forscher widersprechen dem jedoch heftig und stufen sie als Dinosaurier ein (Chiappe & Dyke 2002, 107). Das Merkmalsmosaik dieser Gattungen ist offenbar schwer einzuordnen.

Cladistik: Methode, die auf der Basis einer Merkmalsanalyse und einer Wertung der Merkmale die stammesgeschichtlichen Positionen der untersuchten Taxa (Gruppen) bestimmen will und diese in einem Verzweigungssystem darstellt. Homologie: Gemeinsamkeiten im Bauplan (im Aufbau und in der Lage im Organismus). Evolutionär werden sie auf gemeinsame Vorfahren zurückgeführt. Konvergenz: Zwei- oder mehrfach unabhängiges Auftreten baugleicher oder sehr ähnlicher Merkmale. Mosaikform: Lebewesen mit einem ausgeprägten Mix aus Merkmalen, die sonst typisch für verschiedene Gruppen sind. Ein klassisches Beispiel ist Archaeopteryx mit Reptilien- und Vogelmerkmalen. Reversion: Rückentwicklung zu einem mutmaßlich früheren Evolutionsstadium. Schlüsselmerkmal: Merkmal, das als charakteristisch und exklusiv für eine bestimmte Tier oder Pflanzengruppe gilt (oder galt), z. B. galten Federn lange Zeit als Schlüsselmerkmale für Vögel. Theropoden: zweibeinige, meist relativ kleine Raubdinosaurier. Typischerweise waren die Finger und Zehen spitz gekrallt, die Arme kurz und die Hinterbeine lang und kräftig.

Abb. 5: Rekonstruktion von Microraptor zhaoianus (Gezeichnet nach http://dino.lm.com/images/display.php?id=1850)

Der sehr kleine Theropode Microraptor zhaoianus (Wellnhofer 2002, 473f.; Xu et al. 2000, 705; Abb. 5) zeigt Reste einer Körperbedeckung mit federähnlichem Umriß; deren Deutung ist aber aufgrund der schlechten Erhaltung unsicher. Aufsehenerregend war die Entdeckung von Microraptor gui, dessen Körper komplett mit asymmetrischen Federn bedeckt war (Wellnhofer 2003). Da auch die Hinterbeine befiedert waren, eignet sich diese Form jedoch kaum als Vorläufer der späteren Vögel, sondern muß im evolutionstheoretischen Szenario eher auf einen spezialisierten Seitenast gestellt werden.

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Ontogenese als Modell

Das derzeit favorisierte Federentstehungsmodell orientiert sich an der ontogenetischen Entwicklung heutiger Federn: Einstülpung in die Haut, Bildung des Federfollikels, Bildung einer Röhre, aus der die verschiedenen Federtypen entstehen (Abb. 6; Prum 1999, Prum & Brush 2003; kritisch dazu Peters 2001). Doch schon der erste Schritt, die Einsenkung in die Haut zur Bildung des Federfollikels und die Bildung eines Zylinders ist evolutionär sehr fragwürdig, weil es dafür keine Selektionsdrücke gibt (s. u.) und dieser Schritt sehr kompliziert ist. Fossile Belege für eine evolutive Entstehung des Federfollikels fehlen. Immerhin können einige der oben beschriebenen Körperanhänge von manchen Theropoden-Gattungen mit einzelnen Ontogenese-Stadien von Federn verglichen werden, was dem Ontogenese-Modell eine gewisse Plausibilität verleiht. Dabei ist aber zu bedenken, daß über ein wesentliches Federmerkmal, die Verankerungsweise im Körper, bei den Fossilien nichts bekannt ist.

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Die Triebfeder für die Evolution der Feder und des Flugs
Abb. 6: Schema einer fortgeschrittenen Federanlage, teilweise aufgeschnitten (nach Peters 2001). Der Follikel entsteht durch Einsenkung einer Papille in die Haut. Dabei vermehren sich Zellen in einem Ring um die Federanlage herum. Vom Epidermalkragen werden Zellen nach oben abgegeben, die zu Teilen der Feder werden. Die Feder entwickelt sich zunächst als Zylinder in der anfänglich noch geschlossenen Federscheide. Der Epidermalkragen teilt sich beim Hochwachsen gleich in Säulen, aus denen später die Federäste werden. Die Federentwicklung verläuft fast komplett anders als die Entwicklung von Reptilschuppen.

Ein ungelöstes Problem ist die Frage, welche Selektionsdrücke die evolutive Bildung der Federn begünstigt haben könnten. Flugtaugliche Federn erscheinen irreduzibel komplex. Allerdings tendiert die Mehrheit der Forscher dazu, die anfängliche Funktion der Federn nicht in der Flugtauglichkeit zu sehen, sondern in einer anderen der zahlreichen Funktionen von Federn (Diskussion z. B. bei Peters 2001). Insbesondere an Wärmedämmung als ursprüngliche Funktion wird gedacht; doch dafür werden bei weitem nicht so komplizierte Strukturen wie Federn benötigt. Außerdem: Selektion auf Wärmedämmung „zielt“ eher auf Dunenfedern als auf flugtaugliche Federn und führt von der Flugtauglichkeit weg. Hypothesen zu den Selektionsbedingungen zum Erwerb von Federn sind faktisch nicht testbar (Bock 2000, 483). Verschiedene hypothetische Szenarien schließen sich gegenseitig aus.

Ungeklärt ist auch die Frage, auf welchem Wege die Flugfähigkeit erworben wurde; auch dazu sind die Selektionsbedingungen nicht testbar (Witmer 2002, 17; Padian 2003, 452). Hier stehen sich die Boden-Luft-Theorie (Cursorialtheorie) und die Baumtheorie (Arborealtheorie) gegenüber (s. z. B. Padian & Chiappe 1998, Burgers & Chappe 1999; Geist & Feduccia 2000). Die Cursorialtheorie liegt einerseits nahe, da die meisten Theropoden, die den Vögeln morphologisch nahestehen, zweibeinige Läufer waren. Dem stehen jedoch schwerwiegende aerodynamische Probleme entgegen. Fast alle Theropoden-Dinosaurier gelten zudem als Ausgangsformen für einen Bodenstart als zu schwer. Lediglich der oben erwähnte Microraptor zhaoianus hat als Theropode wahrscheinlich im Geäst gelebt und war zudem nur krähengroß. Einige seiner Merkmale sind aber vogelähnlicher als die von Archaeopteryx. Damit ist er als Vorfahre zu spezialisiert. Seine Körperbedeckung ist nicht gut erhalten. Da er zur selben Gattung wie der vierflügelige Microraptor gui gestellt wird, könnte er sich ähnlich wie dieser fortbewegt haben und würde damit aus der Vogelvorfahrenschaft ausscheiden (s. o.).

Da bei den Vögeln die Hinterextremitäten eine ganz andere Funktion haben als die Vorderextremitäten, kann dies auch bei ihren Vorfahren erwartet werden. Das wiederum spricht für laufende Vorfahren.

Der Start von einem erhöhten Punkt aus (Baumtheorie) wäre aerodynamisch klar vorteilhaft gewesen. In diesem Fall aber wäre nach Auffassung vieler Ornithologen zu erwarten, daß auch die Hintergliedmaßen in den Flugapparat integriert worden wären, was bei den Vögeln bekanntlich nicht der Fall ist (Peters 2002, 349). Spekulativ bleibt außerdem, wie die Kluft vom tödlichen Abstürzen wenigstens zu einem Heruntersegeln überbrückt werden konnte – ein Problem, das sich beim Bodenstart nicht stellt. Ein Übergang vom Gleitfliegen zum aktiven Flug wird von manchen Forschern zudem als konstruktiv fragwürdig betrachtet (Geist & Feduccia 2000, 666) und ist auch bei anderen Gleitern unter den Wirbeltieren nie erfolgt. Andererseits ist ein direkter Erwerb des aktiven Flugs von erhöhten Standorten aus so gut wie ausgeschlossen.

Insgesamt ergeben sich bei jedem evolutionstheoretischen Szenario erhebliche Unstimmigkeiten; die Frage nach einem evolutiven Anfang des Vogelfluges kann nicht als geklärt gelten.

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Kritik an der Theropoden-Theorie

Die Vorstellung, Vögel seien Nachkommen der theropoden Dinosaurier, wurde von einer Reihe von Forschern kritisiert. Die wichtigsten Kritikpunkte werden im folgenden kurz diskutiert.

  • Die den Vögeln ähnlichsten Theropoden stammen aus der Oberkreide und sind damit sehr viel jünger als der oberjurassische Archaeopteryx. Auch alle Dinosaurier mit federähnlichen Hautanhängen erscheinen fossil erst ab der Unterkreide. In der Schichtenfolge tauchen „moderne“ Federn schon vorher auf. Jurassische Theropoden sind als Vogelvorläufer weniger geeignet oder zu bruchstückhaft überliefert, um phylogenetische Schlußfolgerungen zu erlauben. Angesichts einer großen Anzahl von Theropodenfossilien in der Kreide ist das Fehlen passender Formen im Jura signifikant.

  • Fast alle Theropoden sind als zweibeinige Läufer und wegen ihres zu großen Gewichts aus aerodynamischen Gründen kaum als Vogelvorläufer geeignet, da die unplausible Cursorialtheorie (Flugstart vom Boden aus) auf sie angewendet werden müßte. Lediglich Microraptor (s. o.) scheint hier eine Ausnahme zu bilden.

  • Ein hypothetischer evolutiver Umbau von Theropoden zum Bauplan der Vögel ist aus konstruktiven Gründen teilweise unplausibel. So entspricht die Vogelhand den Fingern II, III und IV, während die Theropoden die Finger I, II und III besaßen. Eine homöotische Transformation als Erklärung für diese Verschiebung ist hypothetisch und eine nicht weiter zu begründende ad hoc-Hypothese (fehlender Selektionsdruck) (vgl. dazu Feduccia 1999; Wagner & Gauthier 1999; Larsson & Wagner 2002, 150; Kundràt et al. 2002, 158; Feduccia & Nowicki 2002). Ein kontrovers diskutiertes weiteres Beispiel ist der Bau der Lunge. Fossilfunde deuten darauf hin, daß Theropoden eine Krokodillunge besaßen, die nach Auffassung einiger Forscher konstruktiv nicht in die ganz anders gebaute Vogellunge umgebaut werden könne (Jones & Ruben 2001).

  • Kritiker des Cladismus weisen darauf hin, daß Merkmalsüberseinstimmungen auch Konvergenzen sein können (Feduccia 1999). Es sei fragwürdig, wenn im Cladismus die konstruktiven Randbedingungen von evolutiven Umbauten außer acht gelassen würden und die Merkmalsverteilung als wichtigstes oder gar alleiniges Kriterium für die Ermittlung von Abstammungsverhältnissen herangezogen würde. Außer dieser grundsätzlichen Kritik bezweifeln Kritiker des Dino-Vogel-Übergangs die Homologie zahlreicher Merkmale, die der Theropoden-Theorie zugrunde liegen. Konvergenzen müssen bei jeder hypothetischen Ausgangsgruppe in größerer Zahl angenommen werden, auch bei Zugrundelegung der Theropoden-Theorie. Die Vogel- und Dinosaurierfossilien der Kreide weisen zahlreiche unterschiedliche Merkmalsmosaike und Merkmalswidersprüche auf (einige Beispiele folgen weiter unten).
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Explosive Vielfalt der Kreide-Vögel
Abb. 7: Rekonstruktionen von Sinornis aus der Unterkreide
Abb. 8: Eine Platte mit dem Skelett eines Vogels aus der Unterkreide Chinas. Um die Einzelheiten besser hervortreten zu lassen, wurde sie mit Ammoniumchlorid beschichtet. Dabei werden allerdings die Federreste verdeckt. Maßstab: 4 cm. (Aus Peters 1996, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags)

In manchen Darstellungen zur Evolution der Vögel werden Abwandlungsfolgen einiger kreidezeitlicher Gattungen gezeigt, in denen reptilienartige Merkmale zurückgehen und vogelartige zunehmen, etwa von Archaeopteryx über Sinornis (Abb. 7) zu Iberomesornis (Las Hoyas-Vogel) (Sereno & Chenggang 1992; Zhou & Farlow 2001, 251; vgl. Sanz et al. 2002). Solche Darstellungen präsentieren aber nur einen kleinen Ausschnitt aus der Vielfalt der Kreidevögel. Bereits in der Unterkreide gibt es ein gleichzeitiges Nebeneinander sehr verschiedener Vogeltypen, so daß die Existenz von zwei oder drei getrennten Vogellinien von Beginn der Vogelfossilüberlieferung angenommen werden muß (Peters 1994; Fehrer & Zimbelmann 1998).

So gibt es unter den vielen aufsehenerregenden Funden in der Unterkreide von Yixian (China) mit dem Konfuziusvogel (Confuciusornis; Abb. 8) eine Gattung mit einem „modernen“ Hornschnabel und einer modernen Kopplung von Ellenbogen und Handgelenk (wichtig für den Flug), andererseits besaß er ein „altertümliches“ Becken – eine unerwartete Kombination (Hou et al. 1995, Fehrer & Zimbelmann 1998, Peters 2002). Die Temporalregion des Schädels ist diapsid (mit zwei Schläfenfenstern) konstruiert und damit in evolutionstheoretischer Lesart urtümlicher als bei Archaeopteryx. Der in den gleichen Schichten geborgene Liaoningornis weist teilweise ein gegensätzliches Merkmalsmosaik auf (Hou et al. 1996; Fehrer & Zimbelmann 1998). Sein Kiefer war bezahnt („Primitivmerkmal“); die Einrichtungen fürs Fliegen waren dagegen noch „moderner“ als bei Confuciusiornis. Zahlreiche weitere Beispiele solcher widersprüchlicher Merkmalskombinationen könnten angeführt werden.

Bereits aus der Unterkreide sind die Zahntaucher (Hesperornithiformes) bekannt, Wasservögel, die einerseits rückgebildete Flügel besaßen und in dieser Hinsicht sehr abgeleitet sind und auch in anderen Merkmalen ausgesprochen „modern“ waren, andererseits aber Zähne hatten. Obwohl sie flugunfähig (geworden) sind, waren sie weltweit verbreitet. Ebenfalls bezahnt waren die sog. Kreidemöwen (Ichthyornithiformes). Diese Gruppen waren weder untereinander noch mit heutigen Vögeln oder Theropoden enger verwandt (Padian & Chiappe 1998, 32; Chiappe & Dyke 98f.).

Schon dieser kleine Einblick gibt einen Eindruck von der enormen Vielfalt der Kreidevögel (Chiappe 1995, 351), die recht plötzlich auf der Bühne der fossil überlieferten Vögel erscheinen – viele von ihnen etwa gleichzeitig oder noch früher als diejenigen theropoden Dinosaurier, die am nächsten mit den Vogelvorfahren verwandt sein sollen. Das Merkmalspektrum dieser Formenvielfalt stellt sich eher als verwirrendes Netzwerk denn als Stammbaum dar; die Verwandtschaftsverhältnisse werden dementsprechend sehr kontrovers diskutiert (Chiappe & Witmer 2002, ix; Witmer 2002, 3). In den Cladogrammen äußert sich das im Auftreten zahlreicher Konvergenzen (s. o.).

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Diskontinuität an der Kreide-Tertiär-Grenze

Die Vogelgattungen der Kreide verschwinden am Ende der Kreide, um am Beginn des Tertiärs wiederum explosiv durch die uns heute vertrauten Vogelordnungen abgelöst zu werden (Feduccia 1995). Deren Verwandtschaftsbeziehungen untereinander und mit den Kreidevögeln sind weitgehend unklar. Sie sind von Beginn ihrer Fossilüberlieferung in der Regel deutlich voneinander abgegrenzt – ein Befund, der sich regelmäßig auch bei anderen Tiergruppen zeigt.

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Schlußfolgerungen

Die zahlreichen neuen Funde erlauben einerseits deutlich bessere evolutionstheoretische Deutungen als noch vor wenigen Jahrzehnten, da sich der Formenraum zwischen Theropoden und Vögeln mittlerweile gut gefüllt hat. Andererseits tritt ein neues evolutionstheoretisches Problem auf. Die Häufigkeit der Konvergenzen und Reversionen hat mit der Formenvielfalt rapide zugenommen (vgl. z. B. Peters 2002, 153). Paul (2002, 144) ist sogar der Auffassung, daß die meisten dinosaurierähnlichen Vögel so vogelähnlich sind, weil sie sekundär flugunfähig sind. Die Formenvielfalt erweist sich immer mehr als kompliziertes Geflecht: Netzwerk statt Stammbaum. Und die Frage nach Selektiondrücken stellt sich massiv: Was sorgte dafür, daß so viele Merkmale mehrmals evolvierten? Und warum gingen viele bald wieder verloren und das z. T. mehrfach, wenn ihr Erwerb zuvor vorteilhaft war? Grund genug, nach alternativen, nicht-evolutionären Erklärungen zu fragen.

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Studium Integrale Journal 12. Jg. Heft 2 - Oktober 2005